Klassiker Weltreise – Unser Shakespeare

Hallo ihr Lieben,
ich bin froh, dass ich euch zur heutigen Station der Klassiker Weltreise bei mir begrüßen darf.
Eigentlich dreht sich heute alles um Romeo und Julia, doch den Anfang macht heute ein Interview mit Frank Günther, denn er ist Shakespeare Übersetzer.
Viel brauch ich dazu nicht sagen – lasst es einfach auf euch wirken:
Hallo, Herr Günther,
zuerst einmal möchte ich mich herzlich bedanken, dass sie sich die Zeit nehmen, um mir
im Rahmen der Blogtour “Klassiker auf Weltreise“ ein paar Fragen zu beantworten.
Als erstes würde mich interessieren, womit ihre Liebe zu William Shakespeare
begonnen hat. Was genau war der Auslöser?

 

Begonnen hat es damit, daß ich von meinen Verlegern gezwungen wurde, mal einen

 

Shakespeare zu übersetzen. Ich hatte bis dahin nur ein paar Shakespeare-
Zeitgenossen übersetzt, nur mal so aus Spaß an der Freud, hätte mich aber niemals
freiwillig an Shakespeare herangetraut. Schließlich – wer kann schon Shakespeare
übersetzen? Warum soll gerade ich…? Dann hab ich mich doch breitschlagen lassen,
hab das erste Stück »Viel Lärm um nichts« gemacht – und hing von da an am
Shakespeare-Haken. Es ist nämlich eine merkwürdige Erfahrung, wenn man sich für

 

wirklich jeden Satz eines solchen Textes einen deutschen Satz einfallen lassen muß,

 

der dem Original gleichkommen soll, also nicht nur den »Sinn« wiedergeben muß,

 

sondern zugleich auch seine Form, seinen Stil, seine Ironie, seine Musikalität – tausend

 

Fragen tauchen plötzlich auf, an die man zuvor nie gedacht hatte, und

 

einhunderttausend Probleme, für die man erst einmal keine Lösung weiß. Eine so

 

spannende wie masochistische Betätigung.

 

Haben Sie ein Vorbild unter Shakespeares Figuren oder jemanden, der Ihnen ähnlich
ist?

 

 

Nein – aber jeder ist allen Shakespeare-Figuren ähnlich in dem Sinn, daß man
Shakespeares Beschreibungen der Innenwelt seiner erfundenen Gestalten in sich selber
wiederfinden kann, ob im Guten oder im Bösen.

 

Haben Sie die wichtigsten Schauplätze aus Shakespeares Werken schon einmal
besucht?

 

Nein – wozu? Shakespeare hat das ja auch nicht, der war auch nie in Italien,

 

Griechenland, Athen, Venedig, Verona, Ägypten, Sizilien, Dänemark, Böhmen,

 

Frankreich oder auf den Bahamas…

 

In Verona kann man sich das Stammhaus der Capulets ansehen, mit Julias Balkon. Es
ist ein totaler Fake: Ein ehemaliger Viehstall, der zur Touristenattraktion aufgemöbelt
wurde; der berühmte Balkon (der bei Shakespeare gar nicht vorkommt) wurde erst 1937
angebaut, alles nach dem Vorbild der Filmkulisse des Metro-Goldwyn- Mayer R&J-Films
von 1936 – eine brillante Idee des Direktors der veroneser Museen, Antonio Avena.
Capulets haben dort nie gewohnt. Ein Total-Fake auch Julias Grabkammer und
Sarkophag in Verona – schon deswegen, weil sie nie gelebt hat: Sie wurde von einem
italienischen Autor namens Masuccio Salernitano etwa um 1450 frei erfunden. Der
nannte sein Liebespaar noch Mariotto und Ganozza und ließ es in Salerno leben. 1524
hat ein Autor namens Luigi da Porto die Geschichte von Salernitano übernommen und
eine neue daraus gemacht: Historia novellamente ritrovata di due nobili amanti («Die
neu entdeckte Geschichte zweier edler Liebender«). Mariotto und Ganozza wurden zu
Romeo und Giulietta umbenannt und in Verona angesiedelt. Auch Mercutio, Paris und
Tybalt hat Da Porto neu dazuerfunden. Und dann hat Shakespeare um 1596 die Da
Porto-Novelle dramatisiert und aus Giulietta wurde Juliet.

 

Man kann natürlich trotzdem nach Verona zum aufgepimpten Fake-Haus der Capulets

 

fahren und im Kreise der Touristen zweimal am Tag zuhören, wie zwei Schauspieler die
Balkonszene spielen. Man kann dort auch die ausgestellten Liebes- und Bittbriefe an
Julia lesen, die täglich aus aller Welt in Verona eingehen, ähnlich wie die Briefe an
Sherlock Holmes in der Baker-Street. Und man kann sich dort in Verona unterm Balkon
auch für teuer Geld trauen lassen, soll etwa 800 Euro kosten, Standesbeamte und
Musik inklusive. Man kann auch Hamlets Schloß Helsingör in Dänemark besichtigen
(Schloß Kronborg). Allerdings stammt die Geschichte des Hamlet aus dem 12.
Jahrhundert – und die erste Festung am Ort des Schloßes Kronborg wurde erst um 1420
gebaut und hat Nullkommanichts mit Hamlet zu tun. Shakespeare hat seine
Dramatisierung einfach in dieses Schloß verlegt. Man kann natürlich dort hinfahren und
sich Szenen aus »Hamlet« vorspielen lassen – das kann man alles machen, wenn man
will. Aber wozu sollte ich das machen?

 

Welches Werk von Shakespeare sollte jeder gelesen haben?

 

 

Na, im Grunde eigentlich alle. Aber ohne Zwang – kein Mensch muß Müssen, und man
kann auch ohne Shakespeare überleben. Wenn es einen nicht lockt, kann man´s auch

 

lassen, dann nutzt einem auch ein einzelner Hamlet- oder Romeo&Julia-Text nicht so

 

viel. Aber sagen wir mal Sommernachtstraum, Romeo&Julia, Hamlet, Macbeth, Othello,
Was ihr wollt, Wie es euch gefällt, Kaufmann von Venedig, Maß für Maß, Sturm und
König Lear sollten es schon sein.

 

Außerhalb der klassischen Literatur – welches Buch der letzten 4 Jahre hat Ihnen
besonders gut gefallen und warum?

 

 

Lutz Seilers »Kruso« – eine seltsam fiebrige Erzählform, ein fast surrealistisches
Wahrnehmungskaleidoskop, das lyrisch und beängstigend ein mir sehr fremdes Zeit-
und Weltspektrum festhält: den Moment des Untergangs der DDR.

 

Gibt es ein Buch, das Sie mögen, von dem Sie wissen, dass andere Menschen es nicht
mögen?
Viele Menschen mögen z.B. Shakespeare ganz und gar nicht.
Wie stehen Sie zu den Verfilmungen zu “Romeo und Julia“?

 

So, wie zu allen Shakespeare-Verfilmungen: Ich mag sie nicht besonders. Es liegt

 

daran, daß die Kamera fatalerweise immer die reale, äußerliche Welt zeigt. Wenn nun
z.B. ein Othello an einem realen Meeresstrand in der schäumenden Brandung steht und
gleichzeitig erzählt, wie in seiner Seele schäumend ein Meer der Wut und Verzweiflung
tobt – so ist das zwangsläufig doppelt gemoppelt. Die Kamera filmt realistisch die
»Location« aus der Außensicht ab – und Shakespeares Sprache suggeriert ganz
unrealistisch mentale, metaphorische Bilder von der Welt als Ausdruck innerpsychischer
Vorgänge; sie läßt sie in der Phantasie und Seele des Zuhöreres erscheinen und
erstehen, sie werden in der Imagination wirkmächtiger als jede reale fotographische
Abbildung – und da fährt dann die platte Wirklichkeitsabbildung dem Text in die Parade
und der Text dem realistisch-naturalistischen Filmbild. Das eine stellt dem anderen ein
Bein. Und das gilt für mich so ziemlich für alle Shakespeare-Filme, die ich kenne. Ich
sehe mir deshalb auch möglichst keine mehr an.
Baz Luhrmanns Verfilmung im postmodernen Pop-Videoclip- Styling war optisch sehr
witzig und ironisch – aber, wie die Jugenlichen in New York nach der Premiere sagten –
sowie die Schauspieler den Mund aufgemacht und dazu Shakespeares alte Texte
abgesondert hätten, ist der Ofen aus gewesen.

 

Wie Sie in ihrem Werk “Unser Shakespeare“ erwähnt haben, gibt es unzählige Bücher
zu Shakespeares Werken. Viele Liebesromane sind an “Romeo und Julia“ angelehnt,
wie finden Sie das?

 

Ich habe keine Ahnung, wieviele Liebesromane es dazu gibt – da aber »Romeo und

 

Julia« längst zeiten- und epochenübergreifend zum Inbegriff tragisch endender großer
Liebe mit Herz-Schmerz- Schluchz-Effekt geworden ist, den alle kennen, selbst die, die
Shakespeares Stück selber nie gesehen haben, fällt wohl zu jedem Liebesroman
irgendwann der Vergleich mit Shakespeares R&J. Shakespeare hat eben die all-time-
Blaupause geschrieben, von der auch Rosamund Pilcher heute noch profitiert.

 

Haben Sie noch etwas, was Sie den Lesern sagen oder mitgeben möchten?
 
Lest Shakespeare – oder alternativ: Go out and have love-affairs!
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Mir persönlich hat dieses Interview sehr vie Spaß gemacht und ich möchte Herrn Günther noch einmal dafür danken, dass er mir trotz seines vollen Terminkalenders für Fragen zur Verfügung stand.
Auch sein Werk “Unser Shakespeare” ist sehr interessant und aufschlussreich und sollte von Fans der klassischen Literatur unbedingt gelesen werden.
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